Die resonante Organisation

Julia Culen
8 min readNov 12, 2019

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Warum gibt es noch immer Unternehmen, die ihr Geschäft in klassischen funktionalen Strukturen und Machthierarchien betreiben, so als wären wir noch in den 1970er Jahren? Unternehmen die weiterhin Berater beschäftigen um lineare Kostensenkungsprogramme durchzuführen wie in den 1980er Jahren? Ich habe dafür nur eine Erklärung: diese Unternehmen sind in Resonanz mit einer Welt die es längst nicht mehr gibt und sie verfügen über ein hohes Maß an Ignoranz gegenüber der Welt, wie sie jetzt geworden ist. Sie müssen eine innere Realität von Stabilität aufgebaut haben, die alle Veränderungsimpulse neutralisiert und in ihre alte Logik integriert.

Ignorante Organisationen sind höchst gefährdet, in sich zu erstarren und sich in sich selbst zurückzuziehen. Volatile Märkte, ungewisse Zukünfte, instabile Bedürfnisse und komplexe Umwelten können nicht durch noch mehr Planung unter Kontrolle gebracht werden.

Wenn man den Blick in die Welt wendet und sich mit ihr verbindet, mitschwingt und in Resonanz mit ihr ist, dann bilden sich auf natürliche Art und Weise und ganz unmittelbar ganz andere Formen und Strukturen aus: organische, fluide, lebendige Formationen, in intensivem und freudigen Austausch mit ihrer Umwelt und den relevanten Playern.

Warum “Resonanz” ?

Ich bin mit dem Begriff der “Agilität” unzufrieden. Er ist für mich zu wenig transformativ und weist eher auf eine Verbesserung der Beweglichkeit von starren Strukturen hin anstatt auf einen kompletten Paradigmenwandel, den wir aber dringend brauchen. Ich wollte einen neuen Begriff finden, der die intensive Verbindung, den lebendigen Austausch, das gemeinsame Schwingen und die Bedeutung von Beziehung als USP beschreibt und so drängte sich Begriff der “Resonanz” auf. Der trifft es für mich perfekt.

Being in resonance: dieses Video veranschaulicht das Gefühl das ich mit Resonanz verbinde: miteinander schwingen

Ein weiterer Vorteil dieses Wortes ist, dass ich ihn als Antipode zu Ignoranz verstehe und nutze um die größte Gefahr für Organisationen aufzugreifen: nämlich den Kontakt zur Welt zu verlieren, wie sie heute geworden ist, an einer Beziehung festzuhalten die es längst nicht mehr gibt und stur geradeaus weiterzufahren ohne zu merken, dass alle anderen schon längst abgebogen sind.

Resonant sein heißt mitschwingend sein und Impulse aufzunehmen beziehungsweise zu wandeln, zu verstärken und in die Märkte zurückzugeben. .

Was sind die wesentlichen Elemente und Prinzipien im Social Design von resonanten Organisationen?

Weil ich Organisationen nicht mehr als Strukturen denke sondern als das Design von sozialen Räumen und Prozessen verstehe, nenne ich den Prozess der Organisationsentwicklung lieber “Social Design”. Strukturen erwecken die Illusion von Stabilität und tatsächlichen manifesten und physischen Strukturen. Tatsächlich aber geht es bei Organisationen weitgehend um soziale Interaktionen, die in rein virtuellen Strukturen laufen und vielmehr Prozesse sind, wenn man noch genauer hinsieht. Wie also ist ein solches social Design angelegt und was sind einige der wichtigsten Elemente, Konzepte und Prinzipien?

  • Kleine, überschaubare Einheiten in Teamgröße, menschlichen Maßstäben entsprechend, das sind max 12 Personen je Gruppe
  • Die ganzheitliche Verantwortung für ein spezifisches Marktsegment und komplette Business End-to-End Verantwortung
  • Transparenz in Bezug auf Umsätze und verbrauchte Ressourcen sowie Profitzuordnung. Genau das heißt es in Resonanz mit den direkten Auswirkungen des eigenen Handelns zu sein und die Verbindung mit den Entwicklungen der Welt zu erkennen. Ein wirtschaftliches Grundverständnis und der berühmte Zug zum Tor wird dadurch geübt und gefördert.
  • Beziehungsqualität: Im Vordergrund stehen nicht mehr allein Produkt und Dienstleistung sondern die Qualität der Beziehung, die eine Unit mit ihren Kunden aufbauen kann. Vertrauen, Relationship, Partnership und Friendship sind der USP und die Kür, qualitätsvolle Produkte und Services die Pflicht.
  • Nix is fix: das Prinzip der Vorläufigkeit besagt, dass Rollen, Strukturen, Aufgaben, ganze Geschäfte nicht auf Dauer angelegt sind, sondern geändert werden, sobald sich die Umstände (die Welt) ändern und Neues erfordern. So bleiben Unternehmen fluide und flexibel (Menschen tendieren dazu, sich in einmal erlangte Positionen und Aufgaben einzuzementieren und zu diese verteidigen. Das Ergebnis sind neue Silos, neue Abgrenzungstendenzen, sowie Besitzstandsdenken und Rigidität).
  • Nichts existiert getrennt voneinander bzw. alles ist mit allem verbunden. Alles ist die Ursache von Allem oder einfach Systems Thinking: dass also die Dinge in Verbindung stehen und Auswirkungen aufeinander haben, dass wir in komplexen, nicht mechanistischen Systemen (wie es Menschen eben sind), nicht linear vorhersehbar, sondern resonant miteinander verbunden sind und interagieren. Manches verstärkt sich, manches interferiert und irritiert, anderes neutralisiert einander.
  • Wir bauen daher Feedbackschleifen ins Design ein. Sie geben uns Aufschluss darüber, welche Auswirkungen die Handlungen auf andere Teile des inneren und äußeren EcoSystems haben.
  • Fail fast, learn, iterate: Gerade wenn man nicht weiß, ob und wie Dinge funktionieren, erfordern sie den Mut, Dinge rasch zu beginnen und den noch größeren Mut, sie auch Genaus so rasch wieder zu beenden. Idealerweise bevor sie zu Millionengräbern werden.
  • Probieren geht über studieren: “wir probieren es so lange, bis es funktioniert. Bis dahin lernen wir” . Da wir uns nicht alles vorstellen und alles vordenken können, müssen wir ausprobieren, reflektieren und iterieren. Einmal planen und danach nur noch ausführen ist in komplexen Kontexten untauglich.
  • Die Wiedererlangung einer Selbstwirksamkeit: Menschen sollen, wollen und können wieder direkt die Auswirkungen ihres Handelns und ihrer Entscheidungen erleben und diese danach ausrichten. Wenn sie sich als kleines Rädchen in einer riesigen Funktion ohne direkten Kunden- oder Produktkontakt haben, verlieren sie den Bezug zu dem, was sie machen und vor allem, warum. Smarte Organisationen nützen das menschliche Grundbedürfnis, etwas konkret beizutragen, Ergebnisse zu erzielen und dafür auch anerkannt oder korrigiert zu werden.
  • Purpose und Werte erzeugen Resonanzräume für emotionale Werte und existentielle Sinnfragen — sie strahlen in Richtung Kunden, Mitarbeiter und Partner und sorgen für einen inneren Zusammenhalt und Wesenskern. Dieser energetisiert, klärt und orientiert, wird zum Norden des gemeinsamen Koordinatensystems.
  • Die sogenannte “Peer Pressure” sorgt für die natürlich Auslese von Minderperformern, da sowohl Einzelbeiträge für die Teamleistung transparent sind. Die Nischen für Wenigleister sind schlichtweg geschlossen.
  • Weg von “One Face to the Customer” (Sales”) zu “All Faces to the Customer”: es gibt niemanden, der nicht direkten Kontakt zu den Kunden hat, nicht immer und nicht unkoordiniert, aber es werden keine Produkte mehr von Abteilungen entwickelt, die nicht direkt im Kontakt zum Kunden stehen. Die Resonanz ist die angemessene Umsetzung von Bedürfnissen in Angebote.
  • Innovation ist ein Ergebnis von “Ko-Kreation“: Sogar große Technologieunternehmen schließen derzeit ihre zentralen Entwicklungsabteilungen, lange Zeit der Heilige Gral ihres Selbstverständnisses und legen sie in die Hände der marktnahen Bereiche. Haben wir früher versucht die Kunden zu “verstehen” und gehofft, ihnen das anzubieten, was wir verstanden haben das sie gerne hätten, ist auch dieser Prozess heute nicht mehr linear sondern “Co-Arising”: die Kunden wissen oft selber nicht mehr, was sie wollen sollen. Die Alternative ist es das gemeinsam herauszufinden und zu probieren, so lange bis ein Markt funktioniert. Das Wichtige am Verstehen ist das Zuhören und zwar in der Tiefe der echten Bedürfnisse.
  • Die Verteilung des Risikos und der Verantwortung auf viele kleine Zellen: So gerne man “DEN Verantwortlichen” auch festmachen will, so riskant ist das auch: einzelne Führungskräfte werden zum Klumpenrisiko und gerade wenn wir diese eine Person als “schuldig” identifizieren können, führt das meist zu hoher Risikoaversität bei anderen Betroffenen. Viel schlauer ist es, viele kleinere Risiken zu nehmen bei der gleichzeitigen Möglichkeit, dass eine Vielzahl einzelner Geschäfte zu wirklich großen Umsatzträgern heranreifen.
  • Eine massiv verbreiterte Kontatkfläche zu Kunden und Außenwelt führt dazu, dass viel mehr Impulse und Informationen aufgenommen UND verarbeitet UND in Aktion umgesetzt werden können. Genau das ist eine notwendige Qualität, um in Komplexität und Volatilität handlungsfähig zu bleiben (werden).
  • Die Kombination von Fokus in maximal autonomen kleinen Einheiten UND der Nutzung von Synergien durch Austausch, Kooperation und gemeinsame effiziente Backbone Services.
  • Ein Hin- und Herschwingen von “Impulse aufnehmen und Impulse geben” führt zu einem lebendigen Miteinander und einer natürlichen Seinsform: Viele heute Strukturen sind Maschinen nachempfunden und völlig unnatürlich und auch unmenschlich.
  • Agilität ist nicht Ziel sondern Ergebnis einer Organisation, die sich nicht mehr gegen die VUCA Welt stemmt sondern mit ihr mitschwingt. Die Organisation ist also wieder Teil und Ausdruck von ihr und nicht mehr länger getrennt von ihr.
  • Die funktionalen Silos werden nicht überwunden sondern aufgelöst und in neue ganzheitliche Einheiten überführt.
  • Die Nutzung der Start-Up Energie und die unternehmerische Grundveranlagung von Menschen, etwas beitragen zu wollen, erfolgreich sein zu wollen, die Früchte ihrer Arbeit zu sehen und auch entsprechend belohnt zu sehen. Das hat auch Auswirkungen auf das gesamte Anreizsystem, in dem es eine Übereinstimmung von Erfolg und Entlohnung braucht.
  • Transzendente Grenzen im Business Eco-System: Die Micro Enterprises nutzen die Power von Business Eco Systems, mit denen sie Partnerschaften, Kooperationen und Co-Creative Projekte eingehen und aufbauen. Nicht alle Leistungen müssen “intern” erbracht werden. Ganz im Gegenteil kann eine Organisation Ideen und Kompetenzen nutzen, ohne sie selbst teuer aufbauen und erhalten zu müssen. Manche Leistungen sind sogar nur über den Markt beziehbar.
  • Bewertung Teamleistung ist eine sehr nützliche Zwischenform zwischen den heutigen Extremen: Einzelleistung wird entweder komplett überbetont (und niemand kann getrennt von anderen etwas Wesentliches erreichen) oder ganz vernachlässigt (alle werden am Gesamtergebnis gemessen) und die Einzelleistung verwässert im Allgemeinen.

Die Rückkehr zur menschlichen Dimensionen

Haier, ein chinesischer Home Appliance Anbieter hat erkannt, dass kleine Strukturen, die sich gesamtverantwortlich um ein spezifisches Marktsegment kümmern erfolgreicher sind, als große monolithische Blöcke und das Unternehmen in 6000 Micro Enterprises aufgeteilt. Diese interagieren auf einer gemeinsamen Plattform miteinander, ohne die eigene Entwicklung wechselseitig zu behindern. Im Grunde genommen haben sie etwas sehr Einfaches und Schlaues gemacht: dafür gesorgt, dass sich die MitarbeiterInnen möglichst ohne große Hindernisse um ihre Kunden kümmern können, vor allem indem sie in einem direkten ständigen Beziehungsaufbau und Feedbackaustausch stehen und unmittelbar auf sich ständig veränderlichen Bedürfnisse und Entwicklungen reagieren können.

Im Wesentlichen geht es um eine Rückkehr zu Einheiten, die für Menschen überschaubar sind und ihrem Bedürfnis nach direkter Wirksamkeit und Kontakt zu ihren Kunden und Produkten Rechnung trägt. Die herkömmlichen Organisationsstrukturen basieren auf Trennung von Funktionen und Optimierung von Abläufen. Moderne neuen Formen hingegen setzten auf Verbindung von Menschen und der gemeinsamen Generierung von Innovationen.

Die Zukunft von Organisationen wird möglicherweise ganz anders aussehen als die klassische Pyramide:

In einem nächsten Blog werde ich die Strukturelemente, Rollen und Interaktionsprozesse einer Plattformorganisation genauer beleuchten.

Wir nennen sie “Plattformorganisation”, ein Konstrukt aus kleinen überschaubaren Markteinheiten mit einem gemeinsamen “Backbone”, das spezifische Service- und Produktionsleistungen umfasst (wir unterscheiden zwischen direkten Contributors wie Produktion, Design und Enablern, z.B. Controlling und Admin).

Transformation bei DB und Bosch:

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/the_shift/agilitaets-labor-wie-grosse-unternehmen-wendig-wie-ein-start-up-werden/22676752.html

BCG
https://www.bcg.com/publications/2019/organizing-future-tech-talent-purpose.aspx

Haier:
https://hbr.org/2018/11/the-end-of-bureaucracy
Weiterführung zu Haier:
https://stories.platformdesigntoolkit.com/building-ecosystem-organizations-adf7284eb279

Beispiel über Empowerment bei Siemens:
https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2017/lernen/ihr-macht-das-schon

Beispiel Buutzorg:
https://www.theguardian.com/social-care-network/2017/may/09/buurtzorg-dutch-model-neighbourhood-care

Beispiel Hotelgruppe.
https://kulturwandel.org/project/upstalsboom/

Beispiel Swarovski Gemstones:
https://juliaculen.com/2019/02/01/agile-transformation-bei-swarovski-eine-fallstudie/

Beispiel Fawi:
https://juliaculen.com/2015/06/25/meeting-mr-favi-zobrist-who-based-his-organizations-success-on-freedom-love-trust-and-respect/

Mein Artikel über Unternehmensnetzwerke von 2006:
https://cmpartner.at/files/cmpartner/publikationen/culen_lo30.pdf

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writing, reading, speaking, consulting, gardening Vienna/Salzburg/Granada, https://ccg-group.eu/, https://juliaculen.com

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